zwei Kurzgeschichten
Mirko
Es war ein wunderschöner Tag im Juni, angenehm warm, am blauen Himmel ein paar Schäfchenwölkchen. Die Sonne hatte die Landschaft in einen Garten voller fröhlicher Farben verwandelt, und in den Herzen der Menschen erwachten hoffnungsvolle Gedanken und der flüchtige Traum von der Leichtigkeit des Lebens. Die Menschen wirkten freundlicher und kontaktfreudiger als an den vorausgegangenen trüben Regentagen.
Mirko war Mitte zwanzig. Auch er fühlte sich von einem Hauch aus Frohsinn durchströmt. Und da war noch mehr in dem jungen Mann: Etwas in ihm begehrte auf und trieb ihn an. Eine innere Macht schien ihm zu befehlen. Endlich sollte er tun, was schon seit ein paar Wochen in ihm keimte und stärker wurde und immer öfter sein Denken beherrschte. Wenn er es nicht heute täte, wann dann? Ja, heute fühlte er die Kraft und den Mut zu einem großen Schritt.
Es war am späten Nachmittag, sommerliche Lüfte und Wünsche durchwehten die Straßen der Stadt. Mirko stand vor einem Blumenladen und begutachtete die kunstvoll gebundenen Sträuße. Er war ein bisschen unruhig, schaute sich oft um, er wirkte unsicher und unentschlossen, als würde eine innere Stimme zu ihm „ja“ und gleich im nächsten Augenblick „nein“ sagen.
Schließlich betrat Mirko den Laden. Er ließ sich sieben schöne rote Rosen zu einem Strauß binden. Die Verkäuferin bemerkte beiläufig: „Bestimmt für eine nette Dame…“. Mirko antwortete nicht. Er ließ den Strauß in Papier verpacken, damit nicht jedermann die roten Rosen auf den ersten Blick erkennen würde, denn mit roten Rosen verbindet man eine spezielle Bedeutung. Der junge Mann bezahlte und verließ den Laden. Dann ging er zu einer naheliegenden Bushaltestelle.
Eine Stadt ist mehr als nur Häuser, Straßen und Grünflächen. Sie ist vor allem ein Spiegel der Vorstellungen, der Bedürfnisse und der Kultur ihrer Bewohner. Die Bilder in diesem Spiegel leuchten in allen Farben, viele sind hell und freundlich, einige Bilder sind nicht so attraktiv. Es gibt auch dunkle verborgene Bilder, für die sich nur wenige Menschen interessieren. Mirko zählte an jenem Nachmittag zu dieser Gruppe.
Nach der Busfahrt musste Mirko noch ein paar hundert Meter zu Fuß gehen. Für ihn war das eine wirklich anstrengende Sache. Schließlich gelangte er in eine Straße mit alten, teilweise heruntergekommenen Häusern. Die Gegend wirkte nicht einladend.
Der junge Mann ging zielstrebig auf ein bestimmtes Haus zu und betrat es ohne Zögern. Offensichtlich tat er dies nicht zum ersten Mal.
Eine Frau in den mittleren Jahren, die wie ein weiblicher Türsteher wirkte, begrüßte Mirko, als wäre er ein alter Bekannter. Sie blickte kurz ein bisschen erstaunt, als sie den in Papier eingewickelten Strauß sah. Fast befehlend sagte sie: „Mirko, du kannst heute nicht zu Leyla, spar dir den Weg in den zweiten Stock. Heute ist Gudi im ersten Stock für dich da.“
Mirko tat so, als hätte er nichts gehört. Die Türsteherin wiederholte mit Nachdruck: „Gudi im ersten Stock!“ Und sie fügte hinzu: „Leyla ist krank, du kannst nicht zu ihr. Hörst du!“ Sie betonte jedes Wort.
Mirko antwortete nicht, sondern ging wortlos zur Treppe. Die Türsteherin rief ihm energisch hinterher: „Hast du mich verstanden, Mirko, du kannst nicht zu Leyla!“
Der junge Mann störte sich nicht an den Worten der Türsteherin. Er wollte zu Leyla, nur zu ihr. An einer anderen Frau hatte er kein Interesse. Wenn Leyla krank wäre, würde sie sich trotzdem über seinen Besuch freuen, dachte er. Sehr einfühlend würde er sich verhalten. Und über die Blumen würde sich Leyla auch freuen.
Mirko hoffte dies. Er war sich nicht sicher, wie Leyla reagieren würde. Womöglich würde sie über die wortlose Bezeugung von zarten Gefühlen lachen, befürchtete er manchmal. Vielleicht wollte sie keine Bindung dieser Art – jedenfalls nicht zu ihm?
Mirko schwankte zwischen Zuversicht und Zweifel.
Das Treppensteigen war für den jungen Mann jedes Mal eine schwierige Aktion, oft war es fast eine Qual. Er war körperlich behindert, weil ein Bein nicht normal gewachsen war. Mit der einen Hand hielt er sich am Treppengeländer fest, und mit der anderen Hand stützte er sich auf seine Krücke. Während andere Männer eine Freundin oder eine Ehefrau hatten, konnte Mirko nur von dem Schönsten und dem Sinnvollsten des Lebens träumen.
Ist es da nicht verständlich, dass er eines Tages dieses Haus betreten hatte, um für ein paar Minuten etwas Aufregendes und Schönes zu erleben, etwas, das für ihn normalerweise nur in der Fantasie existierte? Hatte er nicht ein natürliches Recht auf Zuneigung und Zärtlichkeit?
Leyla war eine nette junge Frau mit dunklen Augen und dunklem Haar, passend zu ihrem arabisch klingenden Namen. Mirko fand sie sehr attraktiv. Allerdings sprach Leyla wenig, oft wirkte sie abwesend, als wäre sie in einem Tagtraum gefangen. Mirko störte das ein bisschen, aber er verzieh ihr dieses Verhalten – er verzieh ihr noch viel mehr. Das Zusammensein mit ihr tat ihm sehr gut, es bedeutete ihm sehr viel. Er fühlte sich von ihr verstanden und akzeptiert. Keine andere Frau hatte ihm jemals Beachtung und Zeit geschenkt.
Mirko hatte niemandem von Leyla erzählt, sie war sein süßes Geheimnis.
Gewiss, sein Verhältnis zu ihr war eine Art Geschäft, dessen war er sich voll bewusst. Trotzdem fühlte er sich zu ihr hingezogen. Er behandelte sie immer mit Respekt, und sie behandelte ihn ebenfalls respektvoll und einfühlsam. Mirko hatte sie niemals gefragt, warum sie in diesem Haus arbeitete, und sie hatte über seine Behinderung niemals ein Wort verloren. Für Leyla schien die Behinderung nicht zu existieren. Und für Mirko schienen ihre Männerkontakte nicht zu existieren, er verdrängte diese dunkle Seite.
An diesem Tag wollte er ihr mit einem Strauß roter Rosen eine Freude bereiten. Vor allem aber wollte er ihr auf diese Weise etwas sagen, was er mit Worten nicht gewagt hätte. Zu groß war seine Angst vor einer Zurückweisung. Seine Behinderung lastete wie ein schweres Gewicht auf ihm.
Der Blumenstrauß erwies sich als eine zusätzliche Belastung beim Treppensteigen. Mit Mühe erreichte Mirko den ersten Stock. Die Tür zu einem Zimmer stand auf. Zwei leicht bekleidete Frauen warfen von dort ein paar Blicke auf Mirko, mit einem Gemisch aus Neugierde, Verachtung und Mitleid. Und was wollte denn einer mit einem Blumenstrauß hier, schienen die Blicke zu fragen. Der war wohl verrückt!
Mit Energie schleppte sich Mirko in den zweiten Stock.
Die Tür zu Leylas Zimmer war geschlossen. Er klopfte an, es kam keine Antwort. Vorsichtig öffnete er die Tür und trat ein. Das Rollo war halb heruntergelassen, der Raum wirkte düster.
Die junge Frau lag im Bett, offensichtlich schlief sie tief. Mirko verhielt sich leise. Er entfernte das Papier von dem Strauß und legte die Rosen auf das kleine Tischchen neben dem Bett. Was für eine Überraschung wäre das für Leyla beim Erwachen, dachte Mirko. Vielleicht würde ihre Genesung dadurch beschleunigt.
Mirko stand ruhig am Bett und betrachtete die junge Frau. Ihr bleiches Gesicht erschien ihm im Schlaf noch hübscher als sonst.
Plötzlich entstand im Treppenhaus eine Unruhe. Mirko hörte Rufe und laute Frauenstimmen, und jemand stapfte schnell die Treppe herauf. Als er sich zur Treppe hinwandte, kam die Türsteherin keuchend auf ihn zu. Sie war aufgeregt und durchbohrte ihn mit bösen Blicken.
„Ich hab´ dir doch ausdrücklich gesagt, dass du nicht zu Leyla gehen sollst, ausdrücklich hab´ ich das gesagt!“ schnaubte sie verärgert.
„Warum denn nicht?“ fragte Mirko leise. „Sie schläft, sprich bitte nicht so laut!“
Mit einem Handzeichen bat er um Ruhe, damit Leyla nicht aufgeweckt würde. „Ein Kranker freut sich über Besuch“, fügte er leise hinzu. „Leyla wird sich auch freuen. Warum soll ich nicht bei ihr sein?“
Die Türsteherin antwortete nicht. Sie holte aus einem Schrank ein weißes Handtuch, ging zum Bett und bedeckte mit dem Handtuch Leylas Gesicht.
„Darum!“ sagte sie kurz. „Das hätten wir sofort machen müssen.“
Mirko wurde starr vor Entsetzen.
Die Türsteherin stand für ein paar Augenblicke ruhig am Bett. Ihre Stimme klang traurig, als sie erklärte: „Da ist nix mehr mit freuen. Leyla war drogenabhängig, heute Morgen ist sie gestorben, an einer Überdosis. Der Arzt war hier. In einer Stunde wird sie abgeholt.“ Die Türsteherin senkte leicht den Kopf als Zeichen des Abschieds und der Pietät.
Dann sagte sie: „Mirko, es tut mir leid, ich hab´ sie auch gemocht. Vielleicht willst du noch einen Augenblick bleiben. Wenn du gehst, mach´ die Tür hinter dir zu. Die Blumen nimm wieder mit, du bist zu spät gekommen.“
Dann stieg sie die Treppe hinunter.
Mirko war alleine mit der Verstorbenen. Er stand da wie versteinert, als wäre sein Körper mit einem Schlag blutleer geworden. Er konnte es nicht fassen, er konnte kein Wort sagen, er konnte nicht denken. Nicht mal weinen konnte er. Regungslos stand er am Bett.
Schließlich entfernte Mirko mit zitternden Händen das Handtuch langsam vom Kopf der Toten. Seine Augen starrten auf das Gesicht der jungen Frau, die ihm einmal so viel bedeutet hatte. Mit einem Mal hatte er etwas sehr Schönes und sehr Wertvolles verloren. Er beugte sich über die Verstorbene und verabschiedete sich von ihr mit einem angedeuteten Kuss.
Die Rosen legte er als Abschiedsgeschenk auf das Bett.
Als Mirko die Tür hinter sich geschlossen hatte, war es für ihn, als wäre ein Märchen schlagartig zu Ende gegangen, eine wundersame Geschichte aus verdrängten Widersprüchlichkeiten, aus gegenseitigem Respekt und aus flüchtiger Zuneigung.
Der Gang die Treppe hinunter fiel Mirko schwerer als gewöhnlich. Als er das Haus verließ, sagte die Türsteherin einfühlsam: „Mirko, ich weiß, das war ein sehr schwerer Schlag. Es tut mir Leid für dich. Mir hat es auch wehgetan, wirklich. Aber glaub´ mir, es kommen auch wieder bessere Tage.“
Mirko antwortete nicht. Er wollte nichts sagen, und er hätte auch kein Wort herausgebracht. Er nickte nur kurz. Es gibt Situationen, in denen sagt Schweigen mehr, als man mit Worten ausdrücken kann.
Vor Mirko lag der mühsame Heimweg.
Die Strahlen der tiefstehenden Sonne zauberten einen hoffnungsvollen Schimmer in die sonst so trostlos wirkende Straße. Mirko sah keinen Sonnenschein, er sah keine Straße, keine Häuser, keine Menschen. Seine feuchten Augen waren starr auf den Boden gerichtet.
Eine schöne Fantasie war mit einem Schlag zerbrochen wie eine kunstvolle Vase aus Porzellan. Diese Fantasie war für Mirko das Wertvollste gewesen. So wertvoll hätte kein Kunstwerk sein können.
Er war sich sicher, dass etwas den Tod von Leyla überdauern würde. In seinem empfindsamen Herzen ruhte das Bild dieser jungen Frau. Er verwahrte es als ein Geheimnis, als eine wundervolle Erinnerung, die jedoch überschattet wurde von einem schmerzhaften Gefühl, das man mit Worten nicht beschreiben konnte.
Seine Beziehung zu Leyla war für ihn etwas Besonderes gewesen, viel mehr als nur eine flüchtige Zuneigung.
Hans Reiter
Tashima
Die Morgendämmerung weicht langsam dem neuen Tag. Grauer Nebel liegt wie ein Schleier über der Landschaft. Ein kalter Wind weht durch das weite Tal, als Zeuge der vergangenen bitterkalten Nacht.
Sonam steht vor seinem alten Bauernhaus. Sein Blick schweift über die umliegenden Felder, die im März noch kahl und öde wirken.
Sonam ist vierzig Jahre alt, man würde ihn auf ungefähr fünfzig schätzen. Sein Gesicht ist braun und faltig, die Sonnenstrahlung und das raue Klima seiner Heimat Nepal haben ihm zugesetzt. Zudem ist es gezeichnet von den Mühen und Entbehrungen eines harten Lebens. Die Gesichtszüge verraten Kummer und Sorgen, ein freudiges unbeschwertes Lächeln ist ein eher seltenes Ereignis.
Das Schicksal meint es nicht gut mit Sonam. Das Dorf Kratangana, in dem er aufgewachsen ist, und in dem er mit seiner Familie lebt, liegt in einer kargen Gegend. Das Klima und der Boden sind für den Ackerbau nicht gut geeignet. Angebaut werden Kartoffeln, Mais und Getreide. Landwirtschaft ist nur in bescheidenem Umfang möglich. Deshalb mangelt es den Einwohnern von Kratangana an vielem, ihnen fehlt eine ausreichende Lebensgrundlage. In früheren Zeiten ist die Situation etwas besser gewesen, weil Kratangana weniger Einwohner gehabt hat. Seitdem die Kindersterblichkeit deutlich gesunken ist, und die Alten älter werden, hat sich die Situation in Kratangana verschlechtert. Vielen ergeht es wie Sonam: Es herrscht bittere Armut. In den umliegenden Dörfern sieht das Leben ebenfalls nicht rosig aus. Wenn die Ernte einmal schlecht ausfiele, müssten die Menschen hungern.
Sonam hat drei Söhne: Yeshe ist zwölf, Tenzing ist fünf und Sherab ist zwei Jahre alt. Die Tochter Tashima ist acht Jahre alt.
Der Erlös aus der Landwirtschaft reicht nicht zum Auskommen, obwohl sich die Familie nach Kräften abmüht und äußerst bescheiden lebt. Yeshe, Tenzing und Tashima helfen dem Vater auf dem Feld, so gut die Kinder dies können. Für einen Schulbesuch fehlen sowohl das Geld als auch die Zeit.
Der Vater weiß nicht, wie er seine sechsköpfige Familie ernähren soll. Und nun ist seine Frau Nima wieder schwanger! Sonam ist verzweifelt. Er weiß keinen Weg aus der Not. Oft klagt er seinem Freund Sombat sein Leid. „Bald sind wir zu siebt. Wie soll ich fünf Kinder ernähren, wo ich doch schon jetzt nicht mehr weiß, wie ich die vier satt bekommen kann!“
Sombat hat Verständnis. „Ich möchte dir einen Vorschlag machen“, sagt er mit ernster Mine. „Deine Tochter Tashima ist alt genug, um im Haushalt zu helfen. Sie könnte als Kamalari-Mädchen arbeiten. Das ist zwar mittlerweile offiziell verboten – aber fällt dir was Besseres ein? Hast du eine andere Möglichkeit? Kinderarbeit ist schlecht, aber immer noch besser als hungernde Kinder.“
„Da müsste sie bei einer fremden Familie wohnen“, entgegnet Sonam. „Ich kenne keine, die sie aufnehmen würde.“
„In der Nähe der Stadt Rundrapur gibt es ein großes Landgut. Es gehört einem reichen Herrn namens Punarash. Vielleicht könnte sie dort gut unterkommen“, schlägt Sombat vor.
„Ich weiß nicht, ob das wirklich gut wäre für Tashima“, meint Sonam. „Sie ist doch noch ein Kind.“
„Ja, aber dort lernt sie einen modernen Haushalt kennen. Später im Leben hilft ihr das“, wendet Sombat ein. „Und sie wäre dort gut untergebracht und bekäme immer gut zu essen.“
„Ich weiß nicht, ob Kamalari richtig wäre. Ich muss darüber nachdenken und mit Nima sprechen.“ Sonam ist unschlüssig.
„Hast du denn eine bessere Lösung?“ fragt Sombat.
Sonam schüttelt den Kopf. „Nein, hab´ ich nicht.“
„Überlege dir, ob mein Vorschlag helfen könnte“, betont Sombat. „Ich weiß, Kamalari-Mädchen klingt nicht gut. Es ist nicht erlaubt, und die Leute würden dich vorwurfsvoll angucken. Ich würde natürlich niemandem etwas davon erzählen. Da kannst du dich auf mich verlassen.“
„Wenn ich wüsste, dass es Tashima dort gut ginge! Ich möchte nicht, dass sie schlecht behandelt würde.“ Sonam grübelt. „Vielleicht hast du Recht, vielleicht habe ich keine andere Wahl.“
„Ich glaube, auf dem Landgut wir es ihr gut gehen“, versichert Sombat.
Sonam zieht unschlüssig die Schultern hoch. „Ich werde mit Nima sprechen. Eine schwere Entscheidung für uns, glaube mir.“
Es ist früh am Morgen, Anfang April. Schon seit einer Stunde ist Sonam unterwegs. Er geht schnell, sein Atem bildet kleine Nebelwolken in der kalten Luft. In zwei Stunden will er die Stadt Rundrapur erreichen. Sie liegt in der Provinz Kanchanpur, westlich von Katmandu, der Hauptstadt von Nepal.
Nach einem fast dreistündigen Fußmarsch erreicht er den Randbezirk der Stadt Rundrapur. Er sucht ein bestimmtes Landgut, das ihm sein Freund Sombat empfohlen hat. Es soll einem wohlhabenden Mann namens Punarash gehören.
Die Leute sind freundlich und zeigen Sonam den Weg. Punarash ist in Rundrapur eine bekannte Persönlichkeit. Und Sonam hat Glück: Man lässt ihn in das herrschaftliche Haus eintreten, und er erhält die Gelegenheit, dem Besitzer seinen Wunsch vorzutragen.
Mit optimistischen Gedanken tritt Sonam den Heimweg an. Der feine Herr habe zugesagt, freut er sich. Nun käme eine bessere Zeit für seine Familie. Doch es melden sich auch dunkle Gedanken: Wird es Tashima dort wirklich gut gehen? Und ein Kind herzugeben ist sehr schmerzhaft – für jeden Vater, für jede Familie.
Am folgenden Morgen befindet sich Sonam wieder auf dem Weg von Kratangana nach Rundrapur. Diesmal begleitet ihn seine Tochter Tashima. Für die Achtjährige ist es ein wirklich mühsamer Weg. Doch sie jammert nicht, und sie protestiert nicht, denn sie ist Anstrengungen gewöhnt, und es ist für sie selbstverständlich, ihrem Vater zu gehorchen und nicht viele Fragen zu stellen. Schon als kleines Kind hat man ihr die Vorstellung eingepflanzt, dass ein Mädchen oder eine Frau einem Mann untergeordnet sei und seine Anweisungen zu befolgen habe. Diese traditionelle Vorstellung in Nepal lässt sich schwer ausrotten.
Als die Stadt Rundrapur in Sichtweite kommt, erklärt Sonam seiner Tochter Genaueres über das Ziel, das sie ansteuern: „Tashima, wir gehen zu Herrn Punarash. Er ist reich, er besitzt ein großes Gut und sehr viel Land. Bei Herrn Punarash wirst du lernen, in einem modernen Haushalt zu arbeiten. Darüber habe ich gestern mit dir gesprochen. Du wirst in einem schönen Haus wohnen, und für deine Arbeit gibt uns Herr Punarash Geld. Wir sind eine arme Familie. Du weißt, dass wir kein Geld haben, um dich auf die Schule zu schicken.“
„Ich soll bei dem Punarash arbeiten und wohnen?“ fragt Tashima mit Erstaunen. „Ich kenne den doch gar nicht.“
„Deine Mama und ich haben dir gestern alles erklärt. Es wird dir gut gehen, du musst keine Angst haben. Und etwas ist wichtig: Du musst Herr Punarash sagen, nicht einfach Punarash“, antwortet der Vater streng. „Es heißt Herr Punarash.“
„Was soll ich dort tun?“ Tashima wird unruhig.
„Das wird man dir dort genau erklären, mach dir keine Sorgen“, sagt der Vater beruhigend. „Die Arbeit ist einfach, du kannst das.“
Tashima lässt nicht locker. „Und wie lange soll ich dort bleiben?“
„Du bleibst dort eine Woche oder vielleicht zwei Wochen oder ein paar Wochen mehr. Wie lange, das weiß ich noch nicht“, erklärt Sonam ausweichend.
„Und gehe ich danach dann zur Schule?“ will die Tochter wissen.
„Jetzt stell nicht so viele Fragen! Arbeite gut bei Herrn Punarash, das ist wichtig. Danach sehen wir weiter.“ Sonam ist nicht wohl bei dem Gespräch, er bricht die Unterhaltung ab.
Das Landgut von Herrn Punarash ist beeindruckend. Es sieht aus wie eine kleine Burg oder wie ein kleines Schloss. Es liegt inmitten eines weitläufigen Tals und ist von vielen großen Ackerflächen umgeben. Tashima staunt, sie hat so etwas noch nie gesehen. In ihrem Heimatdorf Kratangana gibt es keine Felder, die so groß sind wie die Felder in diesem Tal.
Sonam weiß, welches Gebäude das richtige ist. Er nimmt an, dass er und seine Tochter erwartet werden. Tashima blickt sich staunend um. Diese dicken Mauern, die vielen Fenster, die verzierten Holztüren, und wie hoch die Häuser sind! Etwas Vergleichbares hat Tashima noch nie gesehen. Sie fühlt sich klein und unbedeutend. Herr Punarash müsse wirklich ein sehr wohlhabender und mächtiger Mann sein, denkt sie. Wie ein König würde er hier leben.
Sonam und Tashima werden von einer Bediensteten freundlich begrüßt und hineingebeten. In einem Empfangsraum sollten sie warten, sagt sie, Herr Punarash würde gleich kommen.
Tashima glaubt, eine Märchenwelt betreten zu haben. Es gibt so viel Schönes und Fremdartiges in dem Raum zu bestaunen: wunderbare Ölgemälde an den mit Holz verkleideten Wänden, Teppiche mit bunten Ornamenten, mit Holzschnitzereien verzierte Schränke und Stühle, deren Sitze aus Samtpolstern bestehen.
Tashima würde am liebsten alles berühren und aus der Nähe betrachten, und sie hat Fragen über Fragen. Ihr Vater antwortet nicht, er wirkt verschlossen und ein bisschen unruhig.
„Frag nicht immer. Bleib jetzt ruhig neben mir stehen“, herrscht er seine Tochter an. „Gleich kommt Herr Punarash. Sei still. Sag nur etwas, wenn du von ihm gefragt wirst.“
Sonam wirkt unsicher und angespannt. Seiner Tochter bleibt das nicht verborgen. Beide stehen gefasst nebeneinander, sie warten auf den hohen Herrn.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten tritt Herr Punarash ein, ein elegant gekleideter Mann, gut genährt, vielleicht Mitte vierzig, strahlend vor Selbstbewusstsein.
„Hallo ihr Beiden“, grüßt er kurz, mit einem gespielten Lächeln. „Das ist also Tashima. Sie ist gesund und kräftig?“ Herr Punarash schaut das Mädchen prüfend an.
Sonam nickt bejahend. „Meine Tochter ist gesund.“
„Gut, dann bringe ich sie jetzt zu unserer Haushälterin, die wird ihr alles erklären“, sagt Herr Punarash. „Da kann sie sofort mit der Arbeit beginnen.“
Er winkt dem Mädchen. „Komm mit mir!“
Zu Sonam gewandt bemerkt er: „Ich bin gleich zurück, wir haben noch etwas zu klären.“
Sonam nickt.
Herr Punarash verlässt mit Tashima den Raum. Das Mädchen wirft noch einen flüchtigen Blick zurück zu seinem Vater, für eine herzliche Verabschiedung bleibt keine Zeit.
Nach wenigen Augenblicken ist Herr Punarash zurück. „Also wie besprochen, ihre Tochter bekommt hier Verpflegung und Unterkunft, es fehlt ihr an nichts. Wir haben vereinbart, dass sie monatlich eine Vergütung erhalten. Die kann ich ihnen erst am Monatsende auszahlen, und auch nur, wenn ihre Tochter zu unserer Zufriedenheit gearbeitet hat.“
„Ja“, antwortet Sonam, „so haben wir das vereinbart. Ich hoffe, dass es meiner Tochter gut gehen wird, und dass sie mit ihr zufrieden sind.“
„Machen sie sich da keine Sorgen, es wird ihr hier viel besser gehen als bei ihnen zu Hause.“ Herr Punarash sieht Sonam nur flüchtig an. Er behandelt ihn so, als wäre es unter seiner Würde, mit einem armen Bauern zu sprechen. Für den Gutsbesitzer geht es nur um ein Geschäft, für Menschlichkeit hat er keinen Sinn. Sonam würde diesem hochnäsigen, unsympathischen Typen am liebsten an den Kragen springen.
„Und da gibt es noch etwas Wichtiges zu beachten“, betont Herr Punarash. „Ihre Tochter arbeitet bei uns als Kamalari-Mädchen. Das darf so nicht nach außen dringen, weil das Kamalari-Modell seit ein paar Jahren offiziell verboten ist, das wissen sie. Also sagen sie bei ihren Nachbarn im Dorf nichts, sonst bekommen sie Ärger, und ihre Tochter hat dann ebenfalls ein Problem. Sie würde ihren Arbeitsplatz und ihre Unterkunft verlieren. Überlegen sie sich eine kluge Ausrede, wenn jemand nach ihrer Tochter fragt. Denken sie immer daran: Hier geht es ihr besser als bei ihnen zu Hause.“
„Ja, Herr Punarash, ich werde natürlich nichts sagen“, verspricht Sonam. „Und sorgen sie bitte dafür, dass meine Tochter gut behandelt wird.“
Herr Punarash lacht. „Machen sie sich keine unnötigen Gedanken!“
„Es ist nicht leicht für mich, meine Tochter abzugeben, Herr Punarash.“ Sonam fällt jedes Wort schwer. Er kämpft mit den Tränen.
„Kann ich verstehen. Also dann auf Wiedersehen, sie haben noch einen weiten Heimweg.“ Mit diesen Worten dreht sich Herr Punarash um und verlässt den Raum.
Sonam ist wütend wegen dieser abfälligen Behandlung, und er ist niedergeschlagen. Nur mühsam kann er gegen den Kummer ankämpfen, der ihn aufzufressen droht. Wahrscheinlich habe Herr Punarash Recht, denkt er, dass es Tashima in Rundrapur besser gehe als in Kratangana.
An diese Hoffnung klammert sich der Vater, sie gibt ihm Kraft.
Tashima arbeitet seit einer Woche auf dem Landgut. Früh morgens um sechs Uhr fängt die Arbeit an, und erst abends ab acht Uhr hat sie frei. Dann fällt sie todmüde ins Bett. Für ein achtjähriges Kind ist die lange Arbeitszeit eine enorme Strapaze. Die Haushälterin hat wenig Verständnis für das Mädchen. Sie findet immer irgendeine Arbeit für Tashima, und dann macht sie Druck, alles muss schnell erledigt werden. Tashima kann es der Haushälterin niemals recht machen. Diese Person hat immer etwas zu kritisieren, Lob für die Kleine kennt sie nicht.
In dieser herzlosen Welt gibt es einen Lichtblick. Tashima findet Halt bei der dreizehnjährigen Zarina, die ebenfalls als Kamalari-Mädchen auf dem Landgut arbeitet. Die Beiden verstehen sich trotz des Altersunterschiedes gut. Zarina hat Tashima gleich am ersten Tag viele Tipps gegeben, wie sie sich verhalten solle, um größerem Ärger aus dem Weg zu gehen. Tashima hört ihr immer aufmerksam zu. Zarina ist für sie wie eine große Schwester, der sie vertrauen kann.
„Gib der Haushälterin immer Recht, widersprich ihr niemals“, rät Zarina. „Und sag auf keinen Fall bei anderen Leuten etwas Negatives über sie. Im Laufe der Zeit wirst du lernen, wie du am besten mit ihr auskommst.“
„Ja, das mache ich so, wie du sagst.“ Tashima nimmt die Ratschläge gerne an.
„Und noch etwas ist ganz wichtig“, sagt Zarina leise unter vorgehaltener Hand, „nimm dich vor Punarash in Acht. Pass auf, dass du niemals alleine mit ihm in einem Zimmer bist. Ich spreche aus Erfahrung. Ich habe den Fehler gemacht und ihm vertraut. Mach nicht auch diesen Fehler.“
„Was meinst du? Warum soll ich nicht mit ihm in einem Zimmer sein?“ Tashima versteht das ältere Mädchen nicht.
„Ach, das erkläre ich dir später, wenn wir beide mal mehr Zeit zum Reden haben.“ Zarina flüstert. „Das erzähle ich dir später. Aber nochmals: Nimm dich vor Punarash in Acht.“
Nun lebt Tashima schon fünfzehn Tage auf dem Landgut. Sie ist in die Arbeit so sehr eingespannt und abends so müde, dass ihr wenig Zeit und Kraft bleibt, an ihre Familie oft zu denken. Der abrupte Abschied von ihrem Vater ist ihr in schmerzhafter Erinnerung geblieben. Habe er nicht gesagt, sie würde nur eine Woche oder zwei Wochen auf dem Landgut arbeiten, grübelt Tashima. Warum besuche er sie nicht? Und wann komme er, um sie abzuholen? Sie weiß keine Antwort.
Als Tashima ihrer Freundin Zarina ihr Problem schildert, muss diese laut lachen. „Hast du wirklich geglaubt, du würdest höchstens zwei Wochen hier bleiben?“ Zarina schüttelt den Kopf. „Ich lebe schon fünf Jahre hier, und in dieser Zeit habe ich viermal meinen Vater und einmal meine Mutter gesehen, sonst niemanden von meiner Familie. Warum sollte es dir anders ergehen?“ Die Verbitterung ist ihr anzumerken.
Diese Worte treffen Tashima wie ein Blitz. „Aber mein Vater wird mich bestimmt bald besuchen, davon bin ich überzeugt“, entgegnet sie. „Meine Mutter kann nicht kommen, weil sie schwanger ist.“
„Achtung, wir müssen schnell auseinander gehen und weiterarbeiten“, flüstert Zarina, „da hinten kommt die Haushälterin. Die darf uns nicht zusammen sehen, das würde Ärger geben.“
Eines Tages erscheint Sonam wieder auf dem Landgut. Weil Herr Punarash angeblich keine Zeit für ihn hat, schickt er den Verwalter.
„Guten Tag, was wollen sie“, sagt er kurz. Schon bei der Begrüßung erkennt Sonam, mit wem er es zu tun hat.
„Guten Tag, meine Tochter Tashima arbeitet seit über vier Wochen bei ihnen“, beginnt Sonam höflich. „Ich möchte sie gerne sprechen und den Lohn für einen Monat abholen.“
Der hochgewachsene Verwalter mustert den Bauer aus Kratangana von Kopf bis Fuß. „Ihre Tochter hat jetzt keine Zeit, sie muss arbeiten, tut mir leid“, sagt er in abfälligem Ton. „Und was den Lohn betrifft, da erhalten sie nur die Hälfte des vereinbarten Betrages. Schließlich ist ihre Tochter noch in der Einarbeitungsphase.“
„Aber es muss doch möglich sein, dass ich meine Tochter kurz sehen kann“, protestiert Sonam. „Drei Stunden bin ich hierher gelaufen – und dann soll ich meine Tochter nicht sehen können?“
„Geht heute leider nicht, vielleicht das nächste Mal“, sagt der Verwalter kurz angebunden. Er holt für Sonam den halben Lohn, und dann verschwindet er mit „Und auf Wiedersehen“ im Gebäude.
Sonam ist wütend und traurig. Der mit Herrn Punarash vereinbarte Lohn für die Arbeit von Tashima sei sehr wenig. Davon jetzt nur die Hälfte für vier Wochen harte Arbeit – das sei eine üble Ausbeutung, denkt Sonam. Dieser Betrag sei gerade einmal so viel, wie ein Tourist aus Europa für eine normale Mahlzeit in einer Gaststätte bezahlen würde. Sonam fühlt sich betrogen und ist niedergeschlagen. Doch er muss das Wenige, das ihm der Verwalter gegeben hat, akzeptieren. Auch wenn der Betrag gering ist – er wird Sonam ein bisschen helfen.
Mit gesenktem Kopf und schwerem Herzen begibt sich der Vater auf den anstrengenden Heimweg. Seine Gedanken bewegen sich im Kreis. Eine ohnmächtige Wut drückt ihn nieder. Würde seine Tochter womöglich als Haussklavin gehalten, sorgt er sich. Sei Herr Punarash ein übler Betrüger und Ausbeuter, oder würde sich alles doch noch zum Guten wenden?
Durch das harte Leben in Armut ist Sonam Enttäuschungen und Erniedrigungen gewöhnt. Und doch ist jeder Schlag des Schicksals erneut ein schmerzhafter Stich in seine Seele.
Als er in Kratangana ankommt, spricht ihn ein Nachbar an: „Hallo Sonam, hast du mit deiner Tochter gesprochen? Wie geht es ihr? Muss sie hart arbeiten?“
„Ja, habe ich, es geht ihr gut“, antwortet Sonam kurz. Er will nichts erzählen und versucht, einen lockeren Eindruck zu machen. Die Leute dürfen nicht die Wahrheit erfahren, das wäre ihm unangenehm. Und er könnte Ärger mit der Polizei bekommen, befürchtet er.
Sonam ist verwundert und verärgert. Wie kann dieser Nachbar etwas über Tashima wissen, fragt er sich. Nur seinem besten Freund Sombat hat er im Vertrauen erzählt, er würde sie zum Landgut von Punarash bringen. Sombat hat ihm vor Wochen dessen Adresse genannt. Sonam hat ihn gebeten, niemand sonst solle etwas über die Arbeit von Tashima erfahren. Wahrscheinlich habe Sombat die Geschichte seiner Frau erzählt, vermutet Sonam, und die habe sie dann ihrer besten Freundin erzählt und so weiter. Und jetzt wisse es bald jeder im Dorf.
Wahrscheinlich würden die Leute erzählen, dass er aus purer Armut seine Tochter als Kamalari-Mädchen arbeiten lasse. Sonam empfindet es als eine Schmach, seine Familie nicht ernähren zu können. Dieser Gedanke schmerzt ihn sehr.
In einem abgelegenen kleinen Zimmer sitzt Zarina still in einer Ecke, den Kopf in die Arme gestützt, die Hände bedecken die feuchten Augen. Sie macht einen traurigen, niedergeschlagenen Eindruck.
Tashima macht sich Sorgen, als sie ihre Freundin entdeckt. „Hallo Zarina, geht es dir nicht gut? Bist du krank?“
Zarina antwortet nicht, sie wirkt abwesend. Tashima setzt sich neben sie und legt tröstend einen Arm auf ihre Schulter. „Zarina, was ist mit dir los?“
Zarina schweigt. Nach einer Weile holt sie ein paar Mal tief Luft. „Der Punarash, dieser verdammte Kerl!“ schluchzt sie. „Ich will ihm immer aus dem Weg gehen, aber manchmal klappt das einfach nicht.“
„Hat er mit dir geschimpft? Sollst du mehr arbeiten? Was hat er gesagt“, fragt Tashima mitfühlend.
„Ich habe dir doch gesagt, ein Mädchen darf nicht mit ihm allein in einem Zimmer sein. Der Punarash ist nun mal der Boss, und das nutzt er aus. Wenn ich nicht tue, was er will, dann fliege ich raus. Das hat er mir oft angedroht. Und wenn ich rausfliege, wo soll ich dann wohnen? Wovon soll ich dann leben? Ich kann hier nicht weg, ich bin von ihm abhängig.“ Zarina weint.
„Was hast du denn tun müssen“, fragt Tashima.
„Was wohl! Sex natürlich, was denn sonst! Der Punarash ist so ein Dreckschwein, ich hasse ihn, ich hasse ihn! Er nutzt es schamlos aus, dass ich mich gegen ihn nicht wehren kann.“ Zarina zittert vor Wut.
Tashima blickt ihre Freundin fragend an. Etwas sehr Schlimmes sei ihr zugestoßen, denkt sie. Aber sie weiß nicht, was dieses Schlimme gewesen ist.
„Oh Tashima, du kennst die Männer noch nicht. Es wird Zeit, dass du mal aufgeklärt wirst. Besser ich kläre dich auf, als dass der Punarash dich auf seine Weise aufklärt. Wir haben jetzt ein bisschen Zeit.“
Und Zarina spricht Klartext, mit Wut und Schmerz in der Stimme.
Für Tashima ist das unbekannte Schlimme eine versteckte Gefahr, der sie unbedingt aus dem Weg gehen will. Sie hat Angst vor Herrn Punarash.
Die Tage und die Wochen fliegen dahin. Schon drei Monate lebt Tashima auf dem Landgut. Für sie ist es eine Zeit der Anpassung und des Lernens gewesen. Sie hat Hausarbeiten kennengelernt, die es in ihrem Elternhaus nicht gegeben hat. An den strengen Tagesablauf und an die umfangreiche Arbeit hat sie sich gewöhnt. Dass sie der Haushälterin nichts recht machen kann, stört Tashima nur noch in geringem Maße. Sie ginge zugrunde, würde sie sich alles zu Herzen nehmen, was täglich auf sie einprasselt.
Es ist wärmer geworden, der Sommer winkt. Tashima hat keine Zeit und keine Energie, den Sonnenschein zu genießen und sich über die grünende Natur zu freuen. Sie ist voll eingespannt, zwölf bis vierzehn Stunden täglich, und das an sieben Tagen in der Woche.
Sonam hat Tashima während der drei Monate nur ein einziges Mal gesehen, allerdings nur fünfzehn Minuten lang und dann in Anwesenheit des Verwalters. Deshalb ist ein freies Gespräch zwischen Vater und Tochter nicht möglich gewesen. Gerne hätte Tashima erzählt, dass Herr Punarash sie manchmal so komisch angucken würde, und dass sie sich vor ihm fürchte. Und sie hätte sagen wollen, dass er ihrer Freundin Zarina oft Schlimmes antun würde. Aber wegen des Verwalters hat sie den Mund gehalten, denn vor ihm fürchtet sie sich ebenfalls. Tashima hat sich so verhalten, als ob alles in Ordnung wäre, und es ihr gut gehe. Sie hat nicht alles erzählen können, was ihr auf der Seele brennt. Dem Vater ist das nicht verborgen geblieben.
Sonam und Nima sorgen sich um ihre Tochter. Eine Lösung des Problems sehen sie nicht. Zu dieser Sorge kommt noch der Ärger mit einigen Dorfbewohnern hinzu. Die meisten Nachbarn sind liebe Menschen, aber es gibt auch ein paar Typen, die unangenehme und unpassende Fragen stellen. „Wie geht es deiner Tochter? Gefällt es ihr noch in Rundrapur? Sie muss sicher viel arbeiten und sieht die Familie nicht. Ist das nicht ein hartes Leben für dein Kind? Wie verkraftet ihr das? Macht ihr euch keine Sorgen um sie?“ Wenn man Kummer hat, hört man bestimmte Fragen nicht gern.
Mittlerweile wissen alle Leute in Kratangana, dass Tashima ein Kamalari-Mädchen ist – eine Haussklavin. Und alle wissen um das offizielle Verbot. Die Eltern befürchten, dass eines Tages die Polizei an die Tür klopfen würde.
Die kühlen Morgenwinde erinnern an den nicht mehr fernen Herbst. Die Arbeit auf den Feldern fordert von den Menschen vollen Einsatz.
Nima hat ihr fünftes Kind bekommen, ein gesundes Mädchen. In die Freude über das neue Familienmitglied mischt sich die Sorge. Wie könnten sie ein weiteres Kind ernähren, fragen sich Sonam und Nima.
Eines Tages kommt unerwarteter Besuch. Ein Mann und eine Frau möchten den Vater von Tashima sprechen. Die beiden unbekannten Personen machen einen höflichen und vertrauenswürdigen Eindruck. Im ersten Augenblick befürchtet Sonam, die Leute seien von der Polizei.
„Machen sie sich keine Sorgen“, beginnt der Mann. „Wir sind nicht von der Polizei, sondern wir kommen im Namen eines international tätigen Kinderhilfswerkes. Wir fahren herum und fragen in den Dörfern, ob jemand weiß, wo Kamalari-Mädchen beschäftigt sind. In Kratangana hat man uns an sie verwiesen. Es ist gut, dass wir sie gefunden haben. Wir wollen ihnen und ihrer Tochter helfen.“
Sonam ist erstaunt und skeptisch. Würde der fremde Mann die Wahrheit sagen, fragt er sich, oder arbeite der womöglich doch mit der Polizei zusammen.
„Sie sind natürlich sehr erstaunt und wahrscheinlich ein bisschen misstrauisch“, erklärt die fremde Frau. „Das kann ich gut verstehen. Schauen sie, hier sind unsere Ausweise vom Kinderhilfswerk.“
Sie hält Sonam einen speziellen Ausweis hin. Der Text und der runde Stempel auf dem Papier sind ihm rätselhaft, denn er ist Analphabet, wie mehr als ein Drittel der nepalesischen Männer.
„Man hat uns gesagt, ihre Tochter Tashima würde auf einem Landgut in der Stadt Rundrapur als Kamalari-Mädchen arbeiten. Stimmt das?“ fragt der Mann betont höflich.
Sonam nickt. „Ja, das stimmt.“
Und entschuldigend erklärt er: „Sie müssen wissen, wir sind eine arme Bauernfamilie. Ich habe fünf Kinder. Mit dem geringen Ertrag meiner Felder kann ich die Familie kaum ernähren. In manchen Jahren ist die Ernte schlecht gewesen, dann haben wir gehungert. Deshalb arbeitet meine Tochter auf dem Landgut. Dort hat sie immer zu essen und eine Unterkunft – und dazu eine Ausbildung im Haushalt.“
„Das verstehen wir. Es ergeht vielen Bauern in dieser Gegend so.“ Die beiden Fremden zeigen viel Verständnis.
„Wir sind nicht wegen einer Strafe gekommen“, erklärt die Frau, „sondern wir wollen helfen. Es besteht die Möglichkeit, ihre Tochter in einem speziellen Internat in Rundrapur unterzubringen. Dort würde sie mit Mädchen, die früher ebenfalls als Kamalari-Mädchen gearbeitet haben, zusammenleben und eine Schule besuchen. Der Schulbesuch ist für die Zukunft ihrer Tochter sehr wichtig.“
„Und wer bezahlt das“, wendet Sonam ein. „Ich kann das nicht – ganz bestimmt nicht!“
„Das wissen wir. Die Bezahlung ist gesichert“, erklärt die Frau. „Einen Teil trägt unser Kinderhilfswerk, der restliche Teil wird von der Regierung übernommen. Die Regierung tut das, weil sie das Kamalari-System bekämpft. Sie will den Mädchen eine Zukunftsperspektive geben. Für die Eltern entstehen keine Kosten.“
„Wirklich keine?“ Sonam kann nicht glauben, was er da hört.
„Ihnen entstehen wirklich keine Kosten, ganz bestimmt nicht“, betont der Mann. „Wenn sie uns ihr Einverständnis geben, und wenn sie uns sagen, bei wem ihre Tochter arbeitet und untergebracht ist, dann werden wir sofort aktiv. Mit der Unterstützung der Polizei holen wir ihre Tochter aus dem Landgut und bringen sie in das Internat. Natürlich wäre es vorteilhaft, wenn sie als Vater mitkommen würden.“
Sonam nickt und wirkt nachdenklich. Seine Zweifel sind nicht ganz ausgeräumt.
„Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen“, sagt die Frau, „sie werden keine Strafe erhalten. Schließlich haben sie aus wirtschaftlicher Not ihre Tochter weggegeben, sie haben keine andere Möglichkeit gehabt.“
„Hoffentlich haben sie Recht, ich will ihnen vertrauen“, entgegnet Sonam. „Alles, was sie wissen wollen, werde ich ihnen sagen, und ich komme gerne mit ihnen, wenn sie Tashima abholen. Ich würde mich sehr freuen, wenn es ihr bald gut ginge. Die ganze Familie würde sich riesig freuen!“
„Es wird ihrer Tochter bald gut gehen, glauben sie mir“, versichert der Mann. „Wir haben schon viele Mädchen aus solchen Verhältnissen befreit.“
„Und Tashima wäre wirklich sehr froh, endlich in die Schule zu gehen“, ergänzt Sonam. „Sie möchte unbedingt Lesen und Schreiben lernen.“
„Ja, für die Zukunft ihrer Tochter ist der Besuch der Schule sehr wichtig“, betont die Frau. „Sie könnte im Anschluss an die Schulzeit eine Ausbildung machen und später einen Beruf ausüben. Vielleicht könnte sie dann ihre Eltern unterstützen…“ Die Frau lacht.
Sonam lacht ebenfalls. Er ist außerordentlich froh über die glückliche Wendung des Schicksals, er kann es fast nicht glauben. In Gedanken sieht er, wie seine Tochter freudig strahlt und lacht, wenn sie aus den Klauen dieses bösartigen Herrn Punarash befreit wird. Sie wird herzlich lachen, wenn ihr Vater sie umarmt und küsst und mit ihr den Weg zum Internat geht.
„Und könnte meine Tochter später für ein paar Tage nach Kratangana kommen“, fragt Sonam. „Sie hat ihre Familie so lange nicht mehr gesehen.“
„Das wäre kein Problem“, antwortet die Frau.
„Ich möchte die Neuigkeiten schnell meiner Frau mitteilen“, sagt Sonam aufgeregt. „Sie kümmert sich gerade um unser jüngstes Kind. Sie wird staunen und sich freuen!“
Sonam und Nima sind glücklich. So schnell wie möglich wollen sie ihre Söhne informieren. Das Schicksal meint es dieses Mal gut.
Jahre später
In Rundrapur sind wieder ein paar Busse mit Touristen angekommen. Es handelt sich vorwiegend um Europäer, die die Schönheit und die Ursprünglichkeit der nepalesischen Landschaft genießen wollen. Die Nähe des Himalaya-Gebirges mit seinen Sieben- und Achttausendern übt auf Bergbegeisterte eine magische Anziehung aus. Von Ferne den Sagarmatha[1] zu sehen – das ist für viele schon die Glückseligkeit.
Viele Touristen haben eine mehrtägige Wanderung durch unwegsames Gelände geplant. Der Trekking-Tourismus boomt in Nepal, er ist eine wesentliche Einnahmequelle für das arme Land.
In der Nähe von einigen Touristikbussen steht die siebzehnjährige Zarina.
„Hallo Zarina“, ruft Tashima von der anderen Straßenseite und winkt. „Warte, ich komme zu dir.“ Die zwölfjährige Tashima überquert schnell die Straße.
„Ach, hallo Tashima, ich habe dich gar nicht gesehen“, antwortet Zarina überrascht. „Wie schön, dass du hier bist. Wie geht es dir?“
„Danke, es geht mir gut. Und wie geht’s dir?“ Tashima freut sich über das Wiedersehen.
„Du siehst, ich stehe hier bei den Bussen für die Touristen“, antwortet Zarina. „Ich gehe seit vier Jahre in die Schule. Ich kann lesen und schreiben, und jetzt arbeite ich in einem Büro für Touristik. Die Ausbildung geht noch weiter. Sie wird von der Regierung und von dem Kinderhilfswerk bezahlt. Das ist gut. Mit den Kollegen komme ich prima zurecht, die sind alle ganz nett.“
„Und was machst du?“ will Zarina wissen.
„Ich werde noch ein paar Jahre auf die Schule gehen“, sagt Tashima. „Ich würde später auch gerne in dem Tourismusbereich arbeiten, vielleicht in einem Hotel. Ich will Englisch lernen. Ich glaube, das würde mir gefallen, mal sehen. Wenn man eine Fremdsprache spricht, ist das von Vorteil.“
„Ich will auch noch Englisch lernen“, ergänzt Zarina. „Dann kann ich mich mit den Touristen verständigen. Mein Chef wäre froh, wenn ich das könnte.“
„Das glaube ich“, Tashima nickt. „Denkst du manchmal noch an das Landgut, an den Punarash und an die Haushälterin?“
„Das liegt zwar vier Jahre zurück, aber trotzdem denke ich noch oft an das Landgut.“ Zarina verzieht das Gesicht. „Ich könnte heute noch kotzen, wenn ich an den Punarash denke, diesen Scheißkerl. Dir verdanke ich, dass ich damals von dort wegkam. Du warst so mutig und hast der Polizei gesagt, dass in dem Gut noch ein Kamalari-Mädchen lebt. Freiwillig hätte mich der Punarash nicht weggehen lassen.“
„Hast du der Polizei alles über den Punarash erzählt“, will Tashima wissen. „Du hast doch gesagt, dass er bestraft werden müsste für das, was er dir angetan hat.“
„Ja klar, ich habe alles erzählt,“ erklärt Zarina. „Der Polizist hat nur genickt und alles aufgeschrieben. Danach habe ich von der Polizei nichts mehr gehört. Der Mann vom Kinderhilfswerk hat gesagt, er habe mit solchen Fällen Erfahrung. Der Punarash habe Geld und Einfluss und vor allem gute Beziehungen nach oben, und deshalb würde er nicht bestraft. Überleg mal: Er hat uns wie Sklavinnen gehalten, aber er wird nicht bestraft! Und wegen der sexuellen Übergriffe auf mich wird er auch nicht bestraft! Der Mann vom Kinderhilfswerk hat gesagt: Wenn Punarash vor Gericht gestellt würde, dann würde er alles abstreiten, und beweisen könnte man ihm nichts. Dem passiert niemals was. Ich bin immer noch wahnsinnig wütend auf ihn.“
„Versuch doch, alles zu vergessen“, empfiehlt Tashima. „Denk nicht mehr an ihn.“
„Wenn das so einfach ginge!“ Zarina lacht und schüttelt den Kopf. „Ob ich will oder nicht, dieser Kerl lebt in meiner Erinnerung weiter, wie ein Gespenst, das man nicht töten kann. Die unangenehmen Gedanken kommen oft, ich kann sie nicht einfach abschalten. Ich hasse ihn. Wenn man ihn bestraft hätte, würde ich mich ganz bestimmt besser fühlen – und in Zukunft würde er dann die Finger von den Mädchen lassen.“
„Wie geht es deiner Familie? Hast du Kontakt zu deinen Eltern und Geschwistern“, fragt Tashima.
„Ja, es geht ihnen gut, ich sehe sie regelmäßig. Und siehst du deine Familie in Kratangana?“
„Ja, alles ist gut. Ich sehe sie ein- oder zweimal im Monat“, antwortet Tashima.
Ein Bus fährt vor.
„Tut mir leid, ich kann jetzt nicht mehr mit dir reden. Da kommen viele Touristen. Bis ein anderes Mal, mach´s gut Tashima!“ Zarina winkt und geht zum Bus.
„Mach du es auch gut, Zarina!“ Tashima wechselt auf die andere Straßenseite und verabschiedet sich mit Winken von ihrer Freundin.
Rundrapur gefällt der Zwölfjährigen, hier fühlt sie sich wohl. Es geht ihr wirklich gut.
[1] Sagarmatha ist der nepalesische Name für den Mount-Everest.
Hans Reiter
Bald erscheint hier eine neue Geschichte!